Dieser legendäre letzte Lagerfeuermoment
Da war er wieder, der Murmeltiertag German Edition: Deutschland hat beim Eurovision Song Contest verloren. Und das, obwohl es Österreicher hat singen lassen.
Österreich hingegen hat gewonnen, obwohl es jemanden hat singen lassen, der mit einem latenten Antisemitismus auffällt und aktuell Schlagzeilen damit macht, dass er findet, Israel sollte nächstes Mal lieber nicht mitmachen dürfen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Denkmal der Woche widmen wir einem der letzten großen Lagerfeuermomente, eben dem Eurovision Song Contest, kurz ESC - und ein bisschen auch dem Fernsehen in seinem aktuellen Zustand.
Und dieser ESC in Deutschland ist wirklich ein Phänomen. Er spaltet die Geister zunächst einmal auf in diejenigen, die dem Spektakel teilweise über Monate im Voraus entgegenfiebern und jene, die damit so gar nichts anfangen können, einerseits. Es gibt aber auch noch die interessante Subkultur andererseits, die offensichtlich eine große Affinität in Sachen ESC an sich zu spüren scheint, sich dann aber eigentlich nur daran abarbeitet, wie fürchterlich “woke” oder gar, oh Graus, LGBTQ-mäßig der angeblich einst so stolze Wettbewerb doch sei und findet, dass früher ja alles besser gewesen sei.
Man weiß da oft nicht, ob man jetzt erstgenannte krasse Fans oder letztgenannte typisch deutsche Miesepeter skurriler finden soll aber jedenfalls bewegt der ESC auf unterschiedliche Arten die Gemüter - und das Jahr für Jahr.
Und ebenfalls Jahr für Jahr verliert Deutschland dabei. Okay, es verlieren naturgemäß alle Teilnehmer, vom Gewinner abgesehen. Aber gefühlt sieht sich wegen so eines albernen Gesangswettbewerbes außer den Deutschen niemand so ernsthaft und selbstmitleidig als Verlierer.
Dabei gewann Deutschland ja bereits zwei Mal. Nur zwei Mal, sagen jetzt die entsprechenden Peer Groups. Die offenbar finden, dass Deutschland da eigentlich viel öfter hätte gewinnen müssen. Aber warum eigentlich?
Statistisch ist es doch so, dass bei 37 Teilnehmerstaaten ja jeder alle 37 Jahre mal gewinnen können müsste. Den Wettbewerb gibt es im nächsten Jahr 70 Jahre - insofern liegt Deutschland sogar ein kleines bisschen über diesem Schnitt. Allerdings waren es nicht immer 37 Teilnehmer, sodass das etwas hinkt. Trotzdem: Manche Teilnehmer haben noch nie gewonnen, andere nur ein einziges Mal. Manche auch durchaus vier oder fünf Mal, andererseits. Mit Statistik alleine kommen wir hier also nicht wirklich weiter, aber eine regelrecht verbrecherische Ungleichbehandlung, wie sie die Miesepeterfraktion in trauter Gemeinsamkeit mit den ehrlichen Fans des ESC gerne in ungefähr jedem Jahr sehen wollen, können wir angesichts dieser statistischen Zahlen jedenfalls ausschließen.
Ein Denkfehler dieser beider Gruppen besteht allerdings auch darin, dass sie unterstellen, dass Deutschland in jedem der vergangenen 69 Jahre versucht haben könnte, den ESC zu gewinnen. Das ist nämlich nicht der Fall. Der Gewinner wird dummerweise zum Ausrichter im Folgejahr - und das bedeutet, dass man auf einmal ein gigantisches Live-Event produzieren muss, das ziemlich viel Geld kostet. Und die Kosten dafür trägt der ausrichtende Staat - beziehungsweise der ausrichtende Sender, denn auch, wenn sowohl Fans als auch Hassliebhaber der Veranstaltung zu glauben scheinen, hier stünden ganze Nationen in einem epischen Wettbewerb, sind es in Wirklichkeit nur die öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten der besagten Nationen - und von denen dürfte keine einzige ernsthaft Bock haben, allzu oft den Pokal zu holen. Je nach finanzieller Ausstattung kann das Interesse, eine gute Leistung zu zeigen, größer oder kleiner ausgeprägt sein, als in Deutschland. Aber jedenfalls hat der für Deutschland ausrichtende NDR schlicht nicht das Budget, diese Sendung öfter als alle 20, besser 30 Jahre mal nach Deutschland zu holen und wird aus diesem Grund eben auch nicht jedes Jahr ein besonders großes Interesse daran haben, Künstler auszusuchen, die allzu große Chancen auf den Sieg haben.
Ab und zu aber schon und in diesem Jahr hatte man ja Mister ESC himself, Stefan Raab ins Boot geholt, um da mal wieder etwas richtig Gutes abzuliefern. Das hat so gar nicht geklappt und aus Mister ESC wurde sowas wie Mister ESC a.D. Dass Raab ausgerechnet in der gleichen Woche auch noch seine erst vor wenigen Monaten gestartete neue Show verlor, weil die ähnlich gut funktionierte, wie seine ESC-Stars, dürfte für ihn bitter sein. Für uns ist das vielleicht ein Zeichen dafür, dass Fernsehen sich in den letzten Jahren eben doch deutlich entwickelt hat und dass selbst Leute, die vor zehn, zwanzig Jahren mal richtig erfolgreich darin waren, heute eben auch mal in einer einzigen Woche gleich zweimal ins Klo greifen können.
Raab ist ein Dinosaurier, die Show mit dem Song Contest aber auch. Sie ist ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der sich praktisch die ganze Nation an den Samstagen um den Fernseher versammelte und diese eine Sendung sah. In den 80er und 90er Jahren gab es da noch Megashows wie “Wetten Das” oder “Verstehen sie Spaß”. Das waren mehr Ereignisse als Sendungen und die Tage danach wurden sie quer durch alle Bevölkerungsschichten diskutiert.
Diese Zeiten sind lange vorbei. Es gibt diese Shows so nicht mehr. Spätestens das Streaming und das damit normal werdende zeitversetzte Fernsehen hat ihnen erst den Rang abgelaufen und dann weitgehend die Magie geraubt.
Geblieben sind wenige Live-Events. Königliche Hochzeiten und Todesfälle, internationale Vorfälle wie die Papstwahl, natürlich der Fußball und ähnliche Sportübertragungen - und der ESC, der selbst in dieser Aufzählung noch am ehesten wie ein Relikt wirkt. Denn ein Gesangswettbewerb müsste ja gar nicht als Liveshow konzipiert sein. Ist er aber - und das macht ihn, neben seinem internationalen Charakter, vermutlich zu etwas so Besonderem.
Das ist bis zu einem gewissen Punkt auch nachvollziehbar und die Show hat auch alles, was eine gute Show ausmacht. Inklusive eines breiten Medienechos lange vorher und auch danach noch. Es ist total nachvollziehbar, dass es einen echten Hype gibt und das Menschen sich das gerne ansehen, mitfiebern, vielleicht auch noch selbst mitvoten und sich aufrichtig für die Musik und die Auftritte, die Kostüme und das ganze Drumherum begeistern mögen. Die Abfrage der Bewertungen als Höhepunkt der Show hat noch nicht mal mehr irgendwas mit Musik zu tun, wird aber selbst für Leute, die mit der Musik sonst nicht viel anfangen können, spannend präsentiert und aufgezogen.
Komisch wird es, wenn das eigentlich sehr harmlose Konzept, dass einfach jedes Land einen Teilnehmer schickt und man dann per Jury und Publikumswertung wählt, wer da jetzt am besten war, so heftig überbewertet und politisiert wird, wie es sich auch in diesem Jahr wieder zeigt.
Ganz besonders zeigt sich das in diesem Jahr an der Beurteilung der Teilnahme Israels, gegen die schon im Vorfeld gewaltig Stimmung gemacht wurde - und zwar aus vordergründig politischen Gründen, die hintergründig klar antisemitische Ursachen haben dürften. Definitiv nichts haben sie allerdings mit Musik zu tun. Es tut eigentlich überhaupt nichts zur Sache, wie man die Regierung eines Landes, aus dem irgendein Künstler zufällig stammt, persönlich beurteilt. Im Falle Israels hatten wir hier eine Künstlerin, die den Terroranschlag des 7. Oktober, bei dem die Hamas eine vierstellige Anzahl an Menschen ermordete, knapp überlebt hatte, weil sie sich unter Leichen versteckt hatte. Ausgerechnet gegen die Teilnahme einer solchen Person Stimmung zu machen und das als Kritik an israelischer Politik zu begründen, ist schon beeindruckend empathiefrei. Aber eben auch ein Ausdruck davon, dass das Event als Bühne für bestimmte politische Aussagen missbraucht wird.
Was nur geht, weil Menschen den Eurovision Song Contest offensichtlich hoffnungslos überbewerten. Und damit sind wir dann wieder beim deutschen Publikum. Das nicht versteht, wieso Deutschland den Wettbewerb nicht mindestens so oft gewinnt, wie Fußball-Weltmeisterschaften, sondern sich fürchterlich aufregt, wenn Deutschland schlecht abschneidet. Wobei als “schlechtes Abschneiden” aber bereits gilt, ein gutes Mittelfeldergebnis abzuliefern.
ESC-Deutschland ist dann auch immer gut darin, sofort sackweise Gründe für die offensichtlich sehr schmerzhafte Niederlage zu nennen. Die finden sich logischerwiese stets erst nach der Veranstaltung - und von ihnen ist einer abstruser als der andere. Da ist das Bewertungssystem: Wahlweise solle man doch die Jurywertung abschaffen oder die Publikumswertung, weil aus diesem oder jenem Grund das eine wie das Andere ja wirklich schlecht urteilen würde. Dann wird zum Problem erklärt, dass man auf Englisch singen dürfe, statt auf Deutsch. Und dieser Punkt zeigt, dass es jedenfalls hier dann eben doch nicht um die künstlerische Darbietung alleine zu gehen scheint, denn der würde man ja jegliche Freiheit zugestehen. Speziell in diesem Jahr wurde dann auch noch bemängelt, dass Deutschland mit Österreichern als Künstler antrat. Das hat die Volksseele offenbar tief verletzt.
All diese Punkte und all das Getue um den ESC zeigen dabei vor allem eines: Man kann sich echt gut selber ganz schön die Stimmung versauen, wenn man sich nur intensiv genug einredet, dass das kein Gesangswettbewerb mit netter Show ist, sondern ein episches Gefecht von der Wichtigkeit mindestens eines Weltkrieges.
Bei jenen teilt Deutschland normalerweise so richtig heftig aus und keiner kommt an Deutschland vorbei. Und am Ende verliert es dann traditionell - was beim ESC wiederum inkonsequenterweise auch wieder falsch ist.
Aber wie auch nach den Weltkriegen sind wir dafür dann echte Weltmeister darin, uns in Selbstmitleid zu suhlen, weil wir finden, dass wir den Sieg doch eigentlich total verdient gehabt hätten.
Es kann schon sein und der Verdacht liegt irgendwie in der Luft, dass der Eurovision Song Contest bei weitem nicht das Megaevent, dieser legendäre letzte Lagerfeuermoment der TV-Welt wäre, wenn wir ihn lediglich so ernst nähmen, wie es gesund wäre und wie es der Anlass rational gesehen hergäbe, statt ihn Jahr für Jahr zur alles entscheidenden Schicksalsschlacht für eine ganze Nation hochzukochen.
Trotzdem würden ESC-Fans wie Hassliebhaber deutlich zurechnungsfähiger wirken, täten sie das ganze Theater wenigstens ein kleines bisschen weniger Ernst nehmen.
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