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WM005 Happy Klaasohm (KW49/2024)
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WM005 Happy Klaasohm (KW49/2024)

Am heutigen Freitag ist Nikolaustag. Auch auf Borkum. Auf Borkum ist der Abend vor dem Nikolaustag “Klaasohm” - ein Brauch, von dem außerhalb der Insel wahrscheinlich kaum jemand jemals etwas gehört hat. Bis vor etwa einer Woche der NDR anfing, über diesen Brauch zu berichten.

Man mag sich ein wenig wundern, dass es ausgerechnet der NDR ist und nicht irgendwelche Krawallmedien. Denn der Stoff gibt einiges her.

Den Ursprung soll der Brauch im Umfeld des Wahlfangs haben, der auf Borkum einmal sehr wichtig gewesen ist. Von allen jungen Männern der Insel werden sechs in drei unterschiedlichen Altersstufen ausgewählt, die davon aber selbst erst unmittelbar vorher erfahren. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit müssen die dann untereinander ringkämpfen, um zu ermitteln, wer der Chef ist. Anschließend zieht jeder von ihnen in einer reichlich absurden, ja fast verstörenden Verkleidung über die Insel. Jeweils mit einem Gefolge, dessen wichtigster Teil die sogenannten “Fänger” sind, die Frauen fangen und festhalten, während die verkleideten Klaasohms mit Kuhhörnern, die bis in die 1990er Jahre noch mit Sand gefüllt gewesen sein sollen, den Hintern verdreschen. Offenbar als eine Art Entschädigung erhalten die Frauen anschließend ein Gebäck namens “Moppe”. Als Finale treffen sich alle Klaasohms auf einem eigens dafür geschaffenen Platz wieder, steigen auf eine gemauerte Säule und lassen sich dort runterfallen - um von einer sich dort versammelten Menschenmenge auffangen zu lassen. So weit, so weird.

Ja, wenn man das so liest, denkt man, was zum Teufel? Das klingt alles regelrecht verstörend, aus der Zeit gefallen sowieso.

Dachte sich auch der NDR und fing eben vor gut einer Woche an, darüber zu berichten. Seit dem 29. November lieferte er nicht weniger als 12 Posts auf Facebook dazu. Sucht man auf der Website des NDR nach Klaasohm, bekommt man sage und schreibe 43 Ergebnisse - und bis auf eines, in dem es allgemein um alte Bräuche in Norddeutschland geht, stammen alle aus den letzten paar Tagen. Und alle mit teilweise scharfer Kritik an dem Brauch. Der NDR hat also eine regelrechte Kampagne gefahren.

Dieser Brauch, den bis vor einer Woche wirklich nur eine kleine Anzahl Personen außerhalb der Insel gekannt haben dürfte, hat gestern nun stattgefunden. Laut Borkumer Polizei ohne besondere Vorfälle oder Beschwerden. Im Vorfeld hatte der ausrichtende Verein bereits erklärt, dass man die Sache mit dem Frauen-prügeln nicht mehr machen wolle. Der Rest des Brauches ist dann zwar für Außenstehende immer noch ziemlich wild, aber es werden zumindest keine Unbeteiligten in Mitleidenschaft gezogen. Das war sicherlich der Teil, dem sich die meiste Kritik widmete und das vermutlich zumindest teilweise zurecht.

Denn es hatten sich mehrere Frauen geäußert, die diesen Brauch offenbar nicht genossen hatten. Es klingt, als wäre jenen “Fängern”, die Frauen einfangen und festhalten, das Thema Einvernehmlichkeit nicht immer ganz wichtig gewesen. Auch hier erstaunlich, dass es dazu trotzdem nie öffentliche Kritik gegeben hat.

Man kann jetzt der Meinung sein, dass jene Kampagne des NDR demnach ja berechtigt und unter dem Strich segensreich gewesen ist. In der Tendenz ist das auch kaum abzustreiten. Wenn hier ungefragt, ungebeten und vor allem ohne Konsens auf Unbeteiligte eingedroschen wurde, die dabei auch noch festgehalten werden, ist das, Brauch hin oder her, erstmal rechtlich höchst fragwürdig. Und es gäbe ja Workarounds. Man könnte sich einfach daran halten, wenn Frauen erkennbar ablehnen, dabei mitzumachen. Dann hätte vermutlich nie ein Hahn danach gekräht.

Doch diese Woche setzen wir unser Denkmal der Frage, ob es eigentlich der Job des NDR ist, in dieser Form eine Kampagne gegen einen extrem regionalen und für die Öffentlichkeit eigentlich komplett irrelevanten Brauch zu fahren und ob eine angemessene Korrektur des Brauchtums nicht von den Leuten auf der Insel selbst hätte kommen müssen, notfalls unter Zuhilfenahme der Polizei.

Ja, gewiss: Medialer Druck funktioniert und hat hier definitiv etwas bewegt. Das hätten Strafanzeigen aber auch. Die Aufnahmen, auf die sich die NDR-Berichte beriefen, stammten alle früheren Jahren. Jemand hat es also vorgezogen, daraus ein Medienspektakel zu machen, statt diese Aufnahmen dazu zu nutzen, den Betroffenen zu helfen. Und mit “jemand” muss man in diesem Fall wohl jemanden beim NDR meinen, denn der war nach eigenen Angaben bereits vor Jahrzehnten mal auf Borkum und dabei ist offenbar selbst die Reporterin verdroschen worden - ohne jemals Anzeige erstattet zu haben.

Das wiederum wirft die Frage auf, ob das ganze wirklich so heftig ist, wie der NDR es darstellt oder ob man hier vielleicht doch etwas zu reißerisch war.

Wir wollen hier aber nichts verharmlosen. Jenem O-Ton, den der NDR eingefangen hat, in dem Christine Arbogast, niedersächsische Staatssekretärin im Ministerium für Gleichstellung und SPD-Mitglied, erklärt, dass es nicht sein könne, dass Frauen sich an irgendeinem Tag irgendwo nicht frei bewegen könnten, ist natürlich uneingeschränkt zuzustimmen.

Ihren Wunsch, dass die Borkumer selbst sich hier eine entsprechende Modernisierung ihres Brauches einfallen lassen sollten, allerdings auch. Was stattdessen passiert ist, ist, dass der NDR über eine komplett überproportionale Berichterstattung massiven Druck von außen erzeugt hat. Druck auf einen kleinen, ausschließlich lokal tätigen Verein auf einer Insel, die gerade so die Größe einer Kleinstadt erreicht. Der Brauch in der hergebrachten Form mag dort gewiss nicht jedem restlos gefallen haben, gar keine Frage. Aber im Wesentlichen haben sich hier Menschen empört, die in keiner Weise betroffen sind - während auf Borkum selbst noch Anfang dieser Woche hunderte Frauen für den Erhalt des Brauches demonstriert hatten.

Was wir hier erlebt haben, ist also keineswegs das heldenhafte Eintreten gegen Gewalttätigkeiten. Hätte man das gewollt, wäre der Rechtsweg der sinnvollere gewesen und auch der NDR hätte mit seinem Bericht nicht ein Jahr warten müssen, wenn es ihm um die Opfer gegangen wäre, statt um die Sensation.

Stattdessen versucht eine gänzlich unbeteiligte Mehrheit einen Dorfbrauch abzuschaffen, den sie nicht versteht und mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließlich durch die Berichterstattung des NDR überhaupt kennt. Die allerdings erkennbar nicht neutral ist und auch nicht sein will, sondern im Rahmen einer “Panorama”-Recherche die für diese Art von Produktionen übliche Stimmung macht. In diesem Rahmen zwar darauf hinweist, dass die meisten Frauen den Brauch offenbar durchaus in Ordnung finden, diese aber leider gar nicht zu Wort kommen lassen.

Das Ergebnis der Berichte ist natürlich ein gutes. Man hat den Brauch damit vermutlich gerettet. Das hätte der NDR aber auch durch eine Berichterstattung in normalem Rahmen anstelle einer politischen Kampagne erreichen können.

Und die Borkumer hätten das auch ganz ohne NDR haben können, wenn sie zur Anzeige gebracht hätten, wo Unrecht geschieht, so wie das im Rest Deutschlands problemlos gehandhabt wird.

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