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WM007 En Garde! Das Oktell ums Kanzleramt hat begonnen (KW51/2024)
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WM007 En Garde! Das Oktell ums Kanzleramt hat begonnen (KW51/2024)

Am 16. Dezember vor exakt einhundert Jahren ging in Berlin die erste Verkehrsampel Deutschlands in Betrieb. Der 16. Dezember in diesem Jahr war der vergangene Montag und da ging die erste politische Ampel der Bundesrepublik endgültig den Weg alles Irdischen. Ist es nicht faszinierend, wie wunderbar ironisch geschichtliche Zufälle sein können?

Nun ist es also angerichtet: Olaf Scholz, derzeit (noch?) Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, hat endlich seine Vertrauensfrage gestellt. Die Stunden danach nutzten alle Fraktionen für einen publikumswirksamen Start in den Wahlkampf. Es wurde viel geschrien, es wurde sich viel gegenseitig vorgeworfen.

Etwas unfair zusammengefasst haben demnach alle alles falsch gemacht und sind teilweise immer noch dabei, alles falsch zu machen oder haben offensichtlich fest vor, alles falsch zu machen. So weit, so normal in einer Demokratie - auch wenn es so rein theoretisch hier und da durchaus etwas sachlicher gegangen wäre. Unterhaltsam war es allerdings.

Bemerkenswert waren zum Beispiel die Redner der SPD, die allesamt nicht anders konnten, als die Schuld für das Scheitern der von ihnen geführten Regierung bei allen zu suchen, außer sich selbst. Das hatte durchaus etwas von einem Rosenkrieg. Die SPD arbeitete sich natürlich vor allem an der FDP ab, der sie unterstellte, der entscheidende Grund für das Scheitern der Regierung zu sein. Was auf eine Art auch stimmt - auch wenn es eine etwas dumme Simplifizierung ist, den Grund für das unheilvolle Aufeinanderprallen zweier komplett entgegengesetzter Positionen nur bei der einen Seite zu suchen. Zumal es halt faktisch schon die SPD war, die die FDP rauswarf und nicht umgekehrt. Überraschend war das an sich nicht, Selbstreflexion hatte die SPD auch in den Wochen vorher schließlich nie gezeigt. Aber gerade deswegen hätten die Sozialdemokraten es eigentlich einfach gehabt, hier zu punkten, indem sie sich mit echten Inhalten dem Wähler gegenüber präsentieren. Chance vertan.

So erwartbar die SPD auftrat, so überraschend waren dafür aber Auftritte der Grünen und auch der CDU. Die Grünen, deren erster Redner selbstverständlich Kanzlerkandidat Robert Habeck war, brachten tatsächlich Kritik an der SPD respektive Bundeskanzler Scholz in ihrer Rede unter, dessen Zögerlichkeit in Sachen Ukraine-Unterstützung gewürdigt wurde.

Der CDU wiederum, selbstverständlich war hier Friedrich Merz, seines Zeichens Kanzlerkandidat der Union, Hauptredner, war es offensichtlich ein Anliegen, noch einmal sehr deutlich anzukündigen, dass Robert Habeck jetzt doch nicht mehr seine ganz erste Wahl als Wirtschaftsminister sei. Derartiges hatte Merz zur Verwirrung auch und gerade der eigenen Parteifreunde vor einigen Tagen nämlich mal offensichtlich halb versehentlich gesagt.

Die übrigen Reden verliefen inhaltlich erwartbar und müssen an dieser Stelle nicht weiter gewürdigt werden. Eine interessante Beobachtung muss hier jedoch noch genannt werden.

Es gab schon im letzten Bundestag eine ganze Reihe fraktionsloser Abgeordneter und auch in diesem gibt es diese in relativ großer Zahl. Früher mal waren fraktionslose Abgeordnete regelmäßig Leute, die direkt über die Erststimme in den Bundestag gewählt wurden, deren Partei bei der Zweitstimme jedoch unter 5 Prozent bliebt. Das kommt zwar vor, ist aber doch selten.

Das ist seit einigen Jahren aber anders. Seit einigen Jahren ist es in der Regel so, dass jemand, der fraktionslos im Deutschen Bundestags sitzt, Mitglied der AFD ist oder wenigstens war, aber aus der Fraktion seiner Partei geflogen ist. Man kann sich vermutlich in etwa ausmalen, wie jemand unterwegs sein muss, der selbst der AFD zu durchgeknallt ist. Diese Leute jedenfalls, von denen man normalerweise nie viel mitbekommt, trugen in dieser Woche in vergleichsweise großer Zahl bei dieser Debatte um die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers vor, warum sie Olaf Scholz wählen würden. Es waren drei oder vier hintereinander.

Und allesamt begründeten ihr auf den ersten Blick doch überraschendes Pro-Scholz-Votum, das sie, worauf sie vorauseilend hinwiesen bitte nicht als Bekenntnis zu Scholz oder gar der Ampel missverstanden sehen wollten. Nur das nicht, die Ampel würden sie wirklich abgrundtief hassen, versprochen! Nein, sie begründeten ihre Stimme für Scholz damit, dass dieser ihrer Meinung nach die Ukraine angenehm wenig unterstütze, was sein mutmaßlicher Nachfolger Merz jedoch anders zu tun gedächte (und alles, was dieser dazu vorher geäußert hat, deutet ehrlicherweise durchaus auch darauf hin) und da sie fest mit dem Dritten Weltkrieg rechneten, sollte sich dies ändern, war ihnen die Verzögerung des erwarteten Weltuntergangs um einige Monate (das wäre ja die Konsequenz einer erfolgreichen Vertrauensfrage, denn dann wäre die Wahl erst im Herbst) eben wert, ein so großes Opfer zu bringen, Scholz zu wählen.

Das war jetzt paraphrasiert aber die Melodramatik der Reden ging in eine ähnliche Richtung. Und ja, diese Gestalten wirkten tatsächlich, als würden sie glauben, was für einen Unsinn sie da redeten.

Das Misstrauensvotum verlor Scholz im Anschluss an die Reden erwartungs- und ehrlich gesagt auch wunschgemäß. Aus irgendwelchen Gründen wartet der Bundespräsident nun noch bis nach Weihnachten, bis er den Termin für die Neuwahl zum Bundestag verkündet. Das ist ein bisschen lächerlich, denn die Abstimmung am Montag ist exakt so gelaufen, wie es zu erwarten war und das Szenario jetzt ist garantiert genau das, auf das sich alle, inklusive des Bundespräsidialamtes, längst vorbereitet haben.

Der Wahltermin, auf den seit gut sechs Wochen alles, was in Deutschland irgendwie politisch engagiert ist, mit Hochdruck hinarbeitet, ist ja längst verkündet und es wäre schon eine verflucht gut zu begründende Sensation, wenn der Bundespräsident sich da jetzt doch noch einen anderen aussuchen würde, als den angedachten 23. Februar des kommenden Jahres - wird nach menschlichem Ermessen also nicht passieren. Was dieses Getue soll, dass er nun noch knapp 14 Tage braucht, um es offiziell zu machen, verstehe, wer will.

Den Parteien und ihren Kandidaten ist das egal. Die sind längst mitten im Wahlkampf. Waren sie auch vor Montag schon - Montag aber wurde es endgültig offensichtlich.

Und auch hier kommt man wieder einmal nicht umhin, anzuerkennen, dass die derzeitige Situation endlich mal eine ist, in der wirklich das Parlament den Ton angibt. Es hat dafür gesorgt, dass der Bundeskanzler sein Amt vorzeitig verlieren wird. Auch wenn den das nicht unvorbereitet trifft, sondern er es ja selbst provoziert hat, zeigt das: Aktuell gibt das Volk in Form seiner Vertretung, genannt Parlament, den Ton an und wenn es hart auf hart kommt, dann verliert eine Bundesregierung eben ihre Macht zugunsten des Volkes.

Wir erlebten nichts weniger als eine Machtdemonstration der Demokratie gegenüber der Regierung. Kommt in so knallharter Form nicht allzu häufig vor und ist schon deshalb ein wirklich historischer Moment. Darüber sollte auch nicht hinwegtäuschen, dass dennoch alles irgendwo geordnet und nach Plan abläuft - das wiederum ist zwar keine Selbstverständlichkeit im internationalen Maßstab. Aber wünschenswert und Zeichen einer reifen Demokratie.

Das Denkmal dieser Woche widmen wir daher zur Hälfte der Historie des Augenblicks. Zur anderen Hälfte jedoch einem Phänomen, das leider nicht neu ist, sich aber jetzt gerade einmal mehr in seiner ganzen Pracht bewundern lässt: Die Dummheit der Medien. Oder vielleicht auch die Dummheit, die Medien den Bürgern unterstellen - und wahrscheinlich sogar beides.

Bereits in der allerersten Episode sind wir hier ein bisschen auf unser Wahlsystem eingegangen. Auf den Umstand, dass wir eben nicht, wie in Amerika, direkt die Regierung wählen. Dessen ungeachtet veranstalten die Medien - allen voran übrigens ausgerechnet die öffentlich-rechtlichen, die sich sonst eigentlich viel Mühe geben, möglichst seriös zu wirken - sogenannte Duelle. Die Definition, wer daran teilnehmen darf, ändert sich bei jeder Wahl, was für sich genommen schon ein schwieriger Aspekt an der ganzen Sache ist.

Dazu werfen wir einen kurzen Blick zurück. Und zwar weit zurück: Guido Westerwelle nämlich trat im Jahr 2002 einmal als Kanzlerkandidat der FDP an, wurde von den Medien jedoch ums Verrecken nicht in ein solches “Duell” eingeladen. Das blieb damals CDU und SPD vorbehalten. Annalena Baerbock hingegen, die im Jahr 2021 Kanzlerkandidatin der Grünen war, wurde eingeladen und plötzlich gab jenes “Triell”, dass Westerwelle sich knapp zwei Jahrzehnte vorher auch schon gewünscht hatte. Worin sich beide Fälle jetzt unterschieden, von der Parteizugeghörigkeit des jeweiligen dritten Kandidaten mal abgesehen, ist nicht erkenn- und objektiv auch nicht wirklich begründbar.

In diesem Jahr nun gibt es vier als Kanzlerkandidaten antretende Spitzenkandidaten. Die Medien jedoch kehren wieder zurück zum Duell. Wiederum ohne sinnvolle Begründung. Man hätte beim Triell bleiben können und den Vertreter der in Umfragen zweit- und drittstärksten Partei einladen können. Oder alle vier. Aber man macht ein Duell zwischen SPD und CDU, zwischen Amtsinhaber und aussichtsreichstem Herausforderer - formuliert man es so, klingt es sogar einigermaßen sinnvoll. Es ist nicht ganz sauber aber wenn man will, kann man es damit ja begründen.

Könnte man. Wäre da nicht der Wunsch der Medien, mit den beiden anderen Kandidaten ein weiteres Duell zu veranstalten, mit dem diese mühsam herbeikonstruierte Begründung dann wieder völlig abstrus wird. Und die Medien dokumentieren, dass sie Kanzlerkandidaten erster und zweiter Klasse kennen. Aber warum ist 14-Prozent-Scholz der Duellpartner von 33-Prozent-Merz, während 14-Prozent-Habeck gegen 19-Prozent-Weidel antreten soll? Das macht vorne und hinten keinen Sinn und das merkt ehrlich gesagt auch der dümmste Wähler. Also wirklich auch noch der allerdümmste Wähler, zum Beispiel jemand, der AFD wählt.

In Wahrheit ist es aber doch so, dass zwei dieser Kandidaten absolut keine Chance haben, den Bundeskanzler zu stellen. Habecks Grüne müssten eine Mehrheit abseits von CDU und FDP finden, was nach Lage der Dinge extrem unwahrscheinlich ist. Weidel müsste ihre Partei von 19 auf 50 Prozent bringen, was eine verstörende Vorstellung ist, aber glücklicherweise auch ein praktisch auszuschließendes Szenario.

Beide nennen sich zwar Kanzlerkandidaten. Das aber ist eigentlich nur ein Trick. Zum Beispiel, um zu solchen Duellen überhaupt eingeladen zu werden. Der allerdings funktioniert - wie man daran erkennen kann, dass eben alle anderen Parteien gar nicht erst im Gespräch für solche Runden gewesen sind. Die Medien übernehmen auch einfach dieses Wording und sprechen von den Kandidaten als Kanzlerkandidaten - obwohl das Wording doch einfach nur ein PR-Gag ist.

Zur Wahrheit gehört auch, dass von den vier sich selbst als Kanzlerkandidat titulierenden Personen nach menschlichem Ermessen auch der dritte, nämlich der Amtsinhaber, keine realistische Chance hat, das Rennen zu gewinnen. Das ehrlichste Duell wäre somit ein Soloauftritt von Herrn Merz gewesen. Okay, okay - das wiederum will wirklich keiner sehen und wäre selbst für Merz-Fans sterbenslangweilig.

Hier wird aber spätestens deutlich, worum es den Medien bei ihren “Duellen” in Wirklichkeit geht: Darum, solide TV-Unterhaltung abzuliefern. Um Information geht es offensichtlich nicht, denn dazu ist das gewählte Format zu willkürlich und richtiggehend undemokratisch gestaltet. Man gibt Merz eine Bühne, auf der er mit der Regierung, die er herausfordert, abrechnen kann. Scholz kann seine Argumente dagegen bringen, ist aber ohne realistische Machtoption. Was sollte denn der Erkenntnisgewinn einer solchen Runde sein?

Übrigens: Nach einer Umfrage von gestern findet sich für keinen einzigen der Bewerber, auch für Merz nicht, eine Mehrheit, die den Kandidaten als Kanzler sehen will. Das nur am Rande.

Um nun wieder zum Thema Wahlsystem zurückzukehren: Was sollen solche “Duelle” also überhaupt? Eine ansatzweise realistische Chance auf Sitze im nächsten Bundestag haben mindestens acht Parteien. Die künstliche Verkürzung der Bundestagswahl auf das Thema “Wer wird Bundeskanzler” war noch nie angemessen und wird unserem Wahlsystem überhaupt nicht gerecht. Zum einen, weil eben nicht bloß zwei Parteien zur Wahl stehen. Zum anderen, weil die Bezeichnung “Kanzlerkandidat” ohnehin eine ist, die sich in keinem Gesetzblatt und keiner Parteisatzung findet, sondern ein reiner Phantasietitel ist, den sich jeder einfach so geben könnte. Man kann jeden dieser vier Kanzlerkandidaten übrigens auch nur in jeweils genau einem Bundesland wählen, in den 15 übrigen hingegen nicht.

Und so sind diese “Duelle” also bestenfalls eine Werbeplattform für ihre jeweiligen Teilnehmer - die jedoch die Medien nach Gutdünken aussuchen und allen anderen diese Chance verwehren.

Ob damit der Wähler für dumm verkauft wird oder die Medien ihre eigene Dummheit beweisen, kann man vielleicht unterschiedlich beurteilen. Der fehlende Aufschrei in der Bevölkerung angesichts dieser inzwischen doch recht langjährigen Unsitte allerdings deutet darauf hin, dass der Für-dumm-Verkauf eventuell vielfach sogar gelungen ist.

Und nein: Eine Duellrunde zwischen Robert Habeck von den Grünen und ausgerechnet Alice Weidel von der AFD ist ja auch nichts, was der demokratisch gesinnte Wähler ernsthaft sehen möchte. Warum sollte man einer Person wie Weidel und ihrer Partei eine solche Bühne bieten wollen? Dass Robert Habeck das dankend ablehnt, ist nachvollziehbar. Schon allein eine Zusage von ihm hätte die Kandidatin der AFD sinnlos und völlig unverdient aufgewertet.

Allerdings - und das muss man der AFD hier eindeutig zugestehen - hat sie den ganzen Irrsinn dieser Duellerei mit der Ausrufung ihrer Kanzlerkandidatur eben bereits als das vorgeführt, was sie ist: Eine idiotische Idee. Alice Weidel hatte jenes Duell, von dessen Ausbleiben sie sicher von vornherein ausgehen musste, in dem Moment gewonnen, wo sie sich den Phantasietitel “Kanzlerkandidatin” anheftete.

Gleichzeitig spricht allerdings Einiges dafür, dass sie damit verhindert hat, dass es wie beim letzten Mal ein Triell zwischen schwarz, rot und grün gibt. Denn das hätte selbstverständlich Fragen aufgeworfen - oder Weidel die Chance gegeben, sich einmal mehr in der Opferrolle zu suhlen, wie sie und ihre Partei das ja nur zu gerne und eben auch sehr erfolgreich tun.

Das ganze Theater ist und bleibt ein Armutszeugnis für unsere TV-Medien, die hier einfach kein gutes Bild abgeben und durch ihr Handeln einmal mehr die AFD gestärkt haben. Man muss ihnen raten, unsere Demokratie zu respektieren, statt so zu tun, als seien wir in Amerika und künftig einfach wieder alle Spitzenkandidaten zu solchen Runden einzuladen, wie es bundesweit jede Schule vor jeder Wahl hinbekommt - und ja, auch das sind sind sehenswerte Runden.

Alternativ muss man jenen Parteien, die es noch nicht tun, raten, künftige Spitzenkandidaten einfach ebenfalls als “Kanzlerkandidaten” zu bezeichnen, um diesen Begriff so absurd wirken zu lassen, wie er in der Realität sowieso längst ist.

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