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WM016 Die eigentliche Zeitenwende (08/2025)
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WM016 Die eigentliche Zeitenwende (08/2025)

Ja, der Begriff „Zeitenwende“ ist allmählich etwas abgenutzt. Was auch daran liegt, dass sein Schöpfer Olaf Scholz es gekonnt vermieden hat, den recht groß wirkenden Begriff adäquat mit Taten zu unterfüttern. Kanzler Scholz wird daran wohl auch nichts mehr ändern, denn am Ende dieser Woche wird er nach Lage der Dinge endgültig abgewählt, nachdem er sich selbst und seine Politik bereits im November um die Mehrheit im Bundestag gebracht hat.

Die echte Zeitenwende fand offensichtlich nicht im Februar 2022 statt, sondern die steht unmittelbar bevor. Und sie sieht deutlich ernster aus, als damals. 2022 hätte es genügt, der Ukraine die Unterstützung zu geben, um die sie gebeten hatte, um die von Russland ausgehende Kriegsgefahr für den Rest Europas zu minimieren. Das ist bekanntlich nicht passiert - auch insbesondere durch die scholz’sche Zauderpolitik.

In dieser Woche nun begann, was sich lange abgezeichnet hatte und was seit der Bekanntgabe Donald Trumps, erneut für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu kandidieren, zu befürchten war. Und worauf man sich seit dem normalerweise hätte vorbereiten müssen, hätte man seiner Verantwortung gerecht werden wollen: Ein „Friedensprozess“, wie ihn sich Russlands Diktator Putin nicht passender hätte stricken können.

Auf den schießt sich Trump in Kooperation mit Putin aktuell ein - nicht ohne zu behaupten, die Ukraine habe den Krieg begonnen, würde einfach nicht verhandeln wollen und sei im Übrigen eine Diktatur. Drei dicke Lügen, die praktisch direkt aus der russischen Propaganda übernommen worden sind - und die niemand geringeres als der amerikanische Präsident wie selbstverständlich in die Welt hinausposaunt. Man wähnt sich in einer Art surrealem Alptraum, einer wahnwitzigen Dystopie. Aber es ist bittere Realität.

Im Kern läuft das, was sich seit dieser Woche schließlich offen abzeichnet, darauf hinaus, dass die Ukraine durch die Ankündigung des Ausbleibens jeglicher Hilfen durch die Amerikaner an den Verhandlungstisch gezwungen wird. Was effektiv einer Kapitulation nahekommt und früher oder später zu einer Niederlage führen wird. Jedenfalls, wenn nicht die Europäer massiv das Rüsten anfangen und das verflucht schnell auf die Kette bekommen.

Das ist dann der Punkt, an dem man mächtig sauer werden darf, dass Europa drei Jahre des heißen Kriegs in der Ukraine mehr oder weniger verpennt hat, nachdem es bereits die acht Jahre vorher so getan hat, als sei der Einmarsch Russlands in einen Teil der Ukraine nicht jenes offensichtliche Vorgeplänkel eines Krieges, als dass er sich 2022 entpuppte.

Nun haben wir parallel dazu bekanntlich einen Bundestagswahlkampf laufen. Man könnte meinen, dass der Themenkomplex Russland sich da in irgendeiner Weise niederschlagen würde. Tatsächlich aber muss man feststellen, dass es kein einziges Plakat größerer Parteien gibt, das für massive Rüstung wirbt oder für die Unterstützung der Ukraine. Das Thema spielt im Wahlkampf bisher praktisch überhaupt keine Rolle.

Nein, das stimmt natürlich so auch nicht. Es spielt sehr wohl eine Rolle. Es spielt zum Beispiel in den Kampagnen des BSW oder der AFD eine große Rolle. Beide kritisieren jede Unterstützung der Ukraine und beide werden für ihre sogenannte „Friedenspolitik“, die ein Euphemismus für “Russland soll die Ukraine haben” ist, gewählt. Auch die Die Linke setzt sich für weniger statt mehr Rüstung ein und sieht in der NATO mehr Problem als Lösung. Und die SPD soll sich auch deswegen für ihren Kanzlerkandidaten Scholz entschieden haben, weil der sich aufgrund seiner ständigen Bremstätigkeit, wann immer es in den letzten drei Jahren darum ging, die Ukraine zu unterstützen, sehr glaubwürdig von Gegenspieler Merz unterscheidet, der sehr massiv für eine Unterstützung der Ukraine eintrat - dafür aber jedenfalls die letzten Wochen auch nicht mehr offensiv warb, weil das Thema offensichtlich auf der Seite der Ukraine-Unterstützer nicht als Gewinnerthema gilt.

In Summe kommen die Parteien der Ukrainegegner, Russlandfreunde und NATO-Skeptiker auf ungefähr die Hälfte aller Wählerstimmen in den Umfragen. Wer jetzt meint, die SPD würde man ein wenig zu hart aburteilen, wenn man ihr eine zu große Kremltreue andichten würde, der sei daran erinnert, dass ihr ehemaliger Kanzler Schröder lange Jahre vom Kreml als Lobbyist bezahlt wurde und, wie ebenfalls in dieser Woche bekannt wurde, vor gut einem Jahr der Bundeskanzler Politiker der Grünen als „antipatriotische Provinz-Arschlöcher“ bezeichnet haben soll, weil diese mehr Mittel für die Unterstützung der Ukraine gefordert hatten.

Olaf Scholz hat zwar 2022 eine Zeitenwende behauptet, mehr als diese Behauptung ist aber nicht passiert. In dieser Woche hat sich die Geopolitik aus westlicher Sicht praktisch auf den Kopf gestellt, denn nicht nur, dass Trump seine Ukraine-Unterstützug einzustellen gedenkt, es steht inzwischen sogar im Raum, dass das US-Militär aus Osteuropa abgezogen werden könnte. Und das wäre ein Schritt, der bei jedem, der auch nur ein bisschen was von der europäischen Friedensordnung verstanden hat, alle Alarmglocken schrillen lassen muss.

Denn diese Truppen stehen da in erster Linie, um komplett auszuschließen, dass dort angegriffen wird. Es macht nämlich einen Unterschied, ob bei einem Angriff Soldaten der mit Abstand größten Atommacht der Welt zu Schaden kommen könnten oder ob man „nur“ einen NATO-Staat angreift.

Insbesondere, wenn erschreckend viel dafür spricht, dass sich das militärische Rückgrat der NATO, das Amerika nach wie vor ist, aktuell nicht mehr besonders für Dinge wie Bündnistreue zu interessieren scheint.

Die Konsequenz ist so klar wie ernüchternd: Europa ist mutmaßlich schon in sehr, sehr kurzer Zeit auf sich allein gestellt. Auf sich allein gestellt, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht und auf sich allein gestellt, wenn es um die Verteidigung Europas geht. Und auf beides ist Europa Stand heute nicht ansatzweise vorbereitet.

Teile Europas bereiten sich bereits auf diesen Worst Case vor. Polen rüstet wie verrückt, auch das Baltikum leistet - gemessen an seiner Größe - unglaublich viel in Sachen Ukraine-Unterstützung.

In Deutschland diskutiert man in Wahlkampfzeiten nicht mal mehr über all das. In Deutschland stellt sich eine Partei, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Teil der kommenden Regierung sein wird, hin, und stellt als alles entscheidende Bedingung für eine Regierungsbeteiligung aus ihrer Sicht das Verbrenneraus im Jahr 2035 in den Mittelpunkt jeglicher Verhandlungen.

Den aktuellen Wahlkampf und seine Themen - zuletzt war das Thema Migration zum zentralen Thema geworden, was ähnlich blöde und in der Realität vergleichsweise irrelevant ist, wie die Sache mit den Verbrennungsmotoren - kann man eigentlich nur noch als bizarres Zerrbild der Realität auffassen. Die Fragen, auf die es wirklich direkt nach der Wahl, vermutlich bereits ab spätestens kommenden Montagmorgen, gehen wird, wollen momentan alle politischen Akteure offenbar vollständig aus dem Wahlkampf ausblenden. Selbst die Extremisten, die bis eben noch offen für die russische Sicht der Dinge gestritten haben, halten sich zurück, weil vermutlich selbst deren Wählern die aktuellen Entwicklungen teilweise überhaupt nicht mehr geheuer sein könnten.

Die dröhnende Stille zu den jüngsten Vorgängen um Trump, Vance und Putin sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland und mit Deutschland Europa und eigentlich die ganze westliche Welt an einem Scheideweg steht. Europa muss sich entscheiden, ob es jetzt aufwacht und der Verantwortung für sich selbst, seine Bürger und eben auch der Ukraine als einen Teil Europas einerseits und dem letzten Stolperstein, der Russland von Übergriffen auf NATO-Staaten abhalten kann, gerecht wird, und endlich beginnt, selbst massiv zu rüsten. Was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit übrigens auch bedeutet, dass in Deutschland die Wehrpflicht wiederkommt - auch wenn die so schnell, wie man sie bräuchte, gar nicht eingeführt werden kann.

Die Alternative ist, die militärische Expansion Russlands zuzulassen, wo auch immer sie enden wird. Und sie wird nicht mit der Ukraine enden und wahrscheinlich auch nicht mit dem Baltikum. Kreml-Chef-Stratege und AFD-Fan Alexander Dugin - kein Witz, der teilt jeden Tag AFD-Content auf seinem X-Account - bot den Amerikanern unlängst und garantiert nicht nur als geschmacklosen Witz gemeint an, Europa wieder unter sich aufzuteilen. Darüber reden diese Leute völlig offen, so scheißegal ist ihnen, was wir davon halten. Das wirft auch ein aufschlussreiches Schlaglicht darauf, wie Ernst man im Kreml aktuell die Europäer eigentlich nimmt.

Die eigentliche Zeitenwende ist da, auch wenn kein Kanzler und kein Kanzlerkandidat sie in dieser Woche offen anzusprechen wagt. Und sie kann in zwei Richtungen gehen. Die eine ist die zunächst unbequeme, die andere die, die später fürchterlich unbequem wird. In einer Demokratie sucht sich Politik meistens die erst später unbequeme aus.

In wenigen Fällen und ganz besonders dann, wenn die Bürger ihnen entsprechende Rückendeckung geben, weil sie verstehen, dass die Alternative zu ein wenig Unbequemlichkeit der blanke Horror, also beispielsweise ein Krieg, ist, entscheidet Politik sich für den weniger einfachen und doch richtigen Weg.

Was Deutschland betrifft, werden wir sehr wahrscheinlich bereits in der nächsten Woche erahnen können, wo die Reise hingeht.

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