„Brainrot” lässt sich ungefähr als Gehirnfäule übersetzen. Gemeint ist damit ein Trend, der die letzten Wochen auf TikTok höchst beliebt gewesen ist.
Tiktok? Diese chinesische Unsinns-App? Ja, genau die. Mit der werden neuerdings Wahlen gewonnen. Erst in Amerika und nun auch in Deutschland.
Um Weihnachten rum hatte die Die Linke drei Prozent der Stimmen in den Umfragen und war, nachdem sich das BSW als Abspaltung gegründet hatte, im Prinzip abgeschrieben. Vergangenen Sonntag wählten die Partei dann fast dreimal so viele, wie sie noch vor wenigen Wochen wählen wollten.
Um fair zu bleiben: das Führungsduo hat auch sonst einen guten Wahlkampf hingelegt, insgesamt hat die Partei ein Personal angeboten, dass ihre Klientel gut angesprochen hatte. Aber das hätte ohne Brainrot nun mal trotzdem nicht gereicht.
Brainrot bedeutet eigentlich, dass man sich sein Hirn mit sinnlosem Content stilllegt, was im Grunde genommen die Kernkompetenz von TikTok ist - jedenfalls, wenn man Menschen über 30 fragt. Nun wurde es jedoch Mode, dass man auf TikTok auch als Kanal mit eigentlich seriösem Anliegen absichtlich genau solchen Content in die Welt feuert. Wenn Parteien und Politiker sowas machen, ist das natürlich besonders originell - zumal auf TikTok deutsche Parteien bis vor kurzem gar nicht stattfanden. Nur die AFD nutzte die Plattform schon länger für ihre aus dem Zusammenhang gerissenen Redefragmente, die sich dort logischerweise auch rasend gut klickten.
Die Linke ließ nun ihren bekanntesten Kopf, Gregor Gysi, schlecht gemachte Laserstrahlen aus den Augen schießen und teilte täglich irgendeinen weiteren Unsinn ähnlichen Kalibers. FAZ-Abonennten, Tagesschau-Fans und selbst Bildzeitungs-Suchtis rümpfen über so etwas selbstverständlich umgehend die Nase und selbst tolerantere Zeitgenossen außerhalb des TikTok-Alters zucken bestenfalls ignorant die Schultern.
Man kann das finden, wie man will, aber es sorgt auf TikTok (und nicht nur dort) für richtig, richtig Reichweite. Aber wozu, fragt sich der geneigte Boomer an dieser Stelle. Und da kommen wir dann endlich zum Punkt.
Denn in unserer Aufmerksamkeitsökonomie ist es erstmal wichtig, die Leute zu ködern, damit sie überhaupt anfangen, einem zu folgen. Und da ist saublöder Content oft erstaunlich erfolgreich. Nur - und das ist eben das Missverständnis gerade älterer Generationen - ist dieser Dummdumm-Content wirklich nur Köder und kein Selbstzweck, nicht der eigentliche Inhalt.
Den streut man nämlich dazwischen immer wieder und gut dosiert ein. Natürlich für das jeweilige Medium aufbereitet in sekundenkurzen Häppchen, so simpel wie möglich, heruntergebrochen auf die Zielgruppe. Und immer im Hinterkopf habend, dass man hier ein Medium bedient, das eigentlich unterhalten will, aber wo der interessierte Adressat trotzdem kurz das Scrollen unterbricht, wenn es interessant genug ist.
Während die demokratischen Parteien immer noch nicht so richtig verstanden haben, was dieses TikTok denn schon wieder ist, hat die Die Linke also diesen Spagat aus Quatsch und Content hervorragend hinbekommen - und damit ihre Stimmen binnen weniger Wochen verdreifacht.
Und sehr wahrscheinlich ihre Partei gerettet, damit praktischerweise gleichzeitig das als Die-Linke-Killer konzipierte BSW im Keim erstickt. Ganz schön beeindruckend für ein bisschen Quatsch auf TikTok, oder?
Wir widmen das Denkmal in dieser Woche einer interessanten neuen Ära, in der Aufmerksamkeit endgültig wichtiger geworden ist, als die eigentlichen Inhalte. Ohne Aufmerksamkeit helfen die besten Inhalte überhaupt nichts. Und in einer Welt, in der die Aufmerksamkeit mehr und mehr durch zwielichtige Apps wie Instagram oder eben TikTok verteilt wird, muss man eben diese Formate gekonnt bedienen - und erst im zweiten Schritt kann man dann zeigen, was man eigentlich will.
Manche brauchen allerdings nicht mal das. Denn auch, wenn es bisher hier nur um den bundesdeutschen Wahlkampf ging, sitzt der wahre König in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie eigentlich im Weißen Haus in Washington. Und auch der hat in dieser Woche einmal mehr bewiesen, warum ihm so schnell keiner diesen Titel streitig macht.
Denn er hat ein offensichtlich mit KI erstelltes Kitsch-Video in die Welt gesetzt, in dem er mit Herrn Netanjahu gemütlich Cocktails schlürfend dargestellt wird - und zwar am Strand in Gaza, das sich - dank trump’scher Investorentätigkeit, versteht sich, zur Riviera gemausert hat. Was ja eine Art… ja, soll man es so nennen, Vision, Trumps ist oder war und daran bewusst anknüpft.
Das Video ist so dumm, so cheesy, so offensichtlich fake, skurril und absurd, dass - wieder mal - jeder, wirklich jeder, der Trump liebt, hasst, verachtet, verehrt, es jedem und allen unbedingt sofort zeigen musste. SO geht Aufmerksamkeitsökonomie, DAS ist Brainrot. Und es ist in diesem Fall sogar ein Brainrot-Content-Hybrid
Der seriöse Inhalt dazu fehlt hier zwar komplett. Aber eine Botschaft können und sollen wir dennoch alle hineindeuten: nämlich, dass Trumps Spruch von der Riviera, die er aus Gaza machen wollen würde, eben doch nicht bloß ein Spruch war, wie Trump sie gefühlt im Minutentakt absondert und die schon eine Sekunde später total wurscht sind, sondern ein Ziel, dass er vielleicht nicht allzu ernst nimmt, aber das dennoch ein Ziel bleibt und mehr als der typische trump’sche Gehirnfurz ist. Es ist Verwirrungstaktik und Aufmerksamkeitsgenerierung zugleich, bleibt bewusst interpretierbar, man kann darüber lachen oder einfach nur den Kopf schütteln. In Richtung Hamas und Konsorten definitiv als Warnung gemeint und auch so funktionierend. Kurz gesagt: Ganz kalt lässt es kaum jemanden und das macht es in all seiner Dummheit so genial.
Willkommen also in einer neuen Welt, was politische Kommunikation betrifft. Und ja, das ist der Stil, an den wir uns gewöhnen müssen. Es wird nicht jeder so kommunizieren, schon gar nicht ständig. Aber es wird immer wieder passieren und - jedenfalls, solange es soziale Medien gibt - ein wichtiger Baustein jeder erfolgreichen Wahlkampfkampagne der Zukunft werden.
Gefallen muss das wirklich niemandem. Aber weggehen wird das so schnell nicht, denn es funktioniert - und jeder, der solchen Kram teilt, trägt dazu bei, dass uns diese zweifelhafte kulturelle Errungenschaft weiterhin erhalten bleibt.
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